Wenn das Grauen Freude macht: Gruseln als Entwicklungsmotor

An Halloween ist bei den Kleinen die Freude über jedes Monster, das uns in den Strassen und vor den Türen begegnet, gross. Je schrecklicher, desto besser. Wäre das an irgendeinem anderen Tag denkbar? Nein. Halloween liefert Kindern einfach einen prima Anlass, um ihre Angst auszuloten und einen Schritt nach vorn zu machen. Solch kontrolliertes Gruseln ist ein wichtiger Bestandteil der gesunden Entwicklung und existiert neben Halloween in vielen anderen kleinen Ritualen bei Jung und Alt. Was ist dran am Gruselspass?

“Damit ich Dich besser fressen kann!” – Der kontrollierte Thrill

Der Spass am Gruseln ist ein Phänomen, das sich bei Kindern auf der ganzen Welt findet. Dazu gab es in den letzten Jahren eine Reihe ethnologisch-psychologischer Untersuchungen, die bewiesen, dass die in der Wagnisforschung so genannte “Angstlust” überall vorkommt und nicht krankhaft ist, sondern ganz normal zum Leben und zur Entwicklung des Menschen gehört.

Nicht umsonst besitzen Märchen bis heute eine enorme Popularität und dürfen ruhig oft vorgelesen werden. Zicklein, Omis und Kinder fressende Wölfe und Hexen, aufgeschnittene Bäuche, im Wald ausgesetzte Mädchen und Jungs, vergiftete Äpfel: Unsere Kinder lieben es, wenns auf die richtig schaurigen Stellen zugeht. Je öfter wir es vorlesen, desto gewisser sind die Kinder, dass es am Ende gut ausgeht.

Auch Erwachsene empfinden Angstlust, wenn sie sich in eine augenscheinliche Gefahr begeben, die in Wirklichkeit gar keine ist, man denke ans Achterbahnfahren, an Horrorfilme, Fallschirmspringen und dergleichen. Der „Kick“, der dabei entsteht, dürfte dem ein oder anderen Leser schon widerfahren sein.

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Grossmutter, was hast Du für grosse Augen? Märchen faszinieren die Menschheit seit eh und je. Gravur aus dem 19. Jahrhundert. Quelle: Commons.

Bei Kindern ist das Experimentieren mit der eigenen Angst Bestandteil einer gesunden Entwicklung. Sich ab und zu ist gruseln einfach aufregend, solange es im sicheren Rahmen abläuft. Im Spiel mit dem Nervenkitzel testen Kinder die Grenzen ihrer Widerstandsfähigkeit gegen die Angst aus, so der deutsche Kinderpsychologe Bruno Bettelheim. Und diese Grenzen verschieben sich im Rahmen der gesunden Entwicklung immer mehr nach aussen. Mit ihnen wächst das Selbstvertrauen, der Mut und die Zuversicht in die eigenen Fähigkeiten. Deshalb werden sie gern regelmässig getestet.

Angst ist ein gesundes Gefühl

Angst an sich ist kein negatives Gefühl, sondern ein Instinkt, der uns seit jeher vor Gefahr schützt. Sie schärft unsere Sinne und bereitet das angemessene Handeln vor. Das Herz pochert, die Muskelspannung erhöht sich, der Atem wird flacher und schneller. Der Thrill setzt ein.

In Alltagssituationen bewahrt die Angst uns davor, ohne zu schauen auf die Strasse zu rennen oder zu klettern, wo es zu wacklig ist. Sie schützt uns vor all dem, was das Gehirn als potenziell gefährlich empfindet. Die Entscheidung, ob man flüchtet oder sich der Angst stellt, muss getroffen werden. Ist die Angst überwunden, setzt eine Erleichterung ein, die so angenehm ist, dass der Spass am Gruseln eigentlich ganz logisch erscheint.

Bereit für den Beutezug: Spuken an Halloween hilft bei der spielerischen Auseinandersetzung mit Themen, die im Alltag furchterregend sind.

Individuelle Grenzen

Wichtig ist, dass die Grenzen der Angst, die in jedem Kind anders veranlagt sind, nicht überschritten werden. Dabei gilt es, bei der Dosis an Grusel nicht nur auf das Alter der Kinder zu achten, sondern auch und vor allem auf die individuellen Gefühle. Schlägt der spielerische Thrill in Todesangst um, können bleibende Schäden an der Seele entstehen. Kinder reagieren auf unausgestandene Ängste mit Vermeidungsverhalten und Übervorsicht. Und das wiederum stört die gesunde Entwicklung.

Was soll ich sagen? Auch wenn man sich wirklich Mühe gibt, geht’s mal daneben: Einmal war ich ein wirklich guter Zombie mit blutverkrusteten Lumpen an und Loch in der Wange, und ich gebe zu, dass meine Vorliebe für eine gewisse Serie mich recht vertraut mit der Gangart und den Geräuschen dieser possierlichen Untoten gemacht hatte.

Während die Älteren noch vom Wonnegraus gepackt kreischend und lachend vor mir flüchteten, als ich auf sie zuwackelte, merkte ich beim Anvisieren der Kleinen schnell, dass ich einen Tick zu grässlich herüberkam. So entledigte ich mich schnell allem, was einen Zombie aus mir machte, tröstete meine entsetzten Kinder und erklärte schweissgebadet, dass alles nur ein Spass war. Inzwischen sind sie älter und können selber ganz gute Zombies spielen. Tipps gebe ich ihnen wohlweislich nicht dazu. 

Eine Prise Angst schmeckt ab und zu einfach gut

Kinder suchen den Thrill je nach Alter selber. Sie beginnen, das Versteckspiel mehr und mehr zu geniessen, sie erlegen sich kleine Mutproben auf und gehen in den dunklen Keller oder klettern hoch auf Bäume hinauf, bis die Äste unter ihren Füssen dünn werden. Sie lassen die Rollläden herunter und spielen im dunklen Zimmer Geisterbahn, nur beleuchtet von den vorher aufgeladenen Leuchtsternen, die wir aus Bügelperlen gebastelt haben, an der Decke. Sie besehen sich das tote Tier am Feldrand ganz genau und mögen es, sich gegenseitig einen Schrecken einzujagen. Alles in dem unbewussten Wissen um die Kontrollierbarkeit der Situation. Licht an, Augen öffnen, Stopp sagen, und alles ist wieder normal.

Audience at a scary movie --- Image by © Daniel Koebe/Corbis
Erwachsene geniessen den Grusel oft im Kino. Quelle: © Daniel Koebe/Corbis

Am Halloween-Abend, wenn die Stimmchen vom grauenhaften Gurgeln und schauderhaften Schnaufen heiser sind und die Schminke abgewaschen wird, rinnt mit ihr der Lust aufs Spuken von den erschöpften Tages-Monstern, und sie freuen sich, dass ihr Bett kein Sarg in einer Gruft, sondern so warm und weich und voller süsser, friedlicher Plüschtiere ist. Bis zum nächsten Jahr, wenn die Untoten wieder erwachen und ihren Tribut an Süsskram fordern.

Happy Halloween und fröhliches Gruseln wünscht Dir herzlich

Deine Bylle von kidz.ch

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